
Erstmals: wir haben nichts dagegen, die neue Fahrradbrücke nach Ann Arbor City zu benennen. Ann Arbor ist eine großartige Stadt, mit der uns eine langjährige Städtepartnerschaft verbindet. Solche Verbindungen stärken den internationalen Solidarität und die Diplomatie – Werte, die wir Linke hochhalten.
Gleichzeitig müssen wir jedoch an eine andere, seit Jahren bestehende Initiative erinnern: die Benennung der Radbrücke Mitte nach Kiomars Javadi. Kiomars Javadi war ein 20-jähriger iranischer geflüchteter junger Mann, der 1986 nach Tübingen kam, um Asyl zu suchen. Am 19. August 1987 wurde er im Tübinger Supermarkt der „Pfannkuch“-Kette des versuchten Ladendiebstahls beschuldigt. Infolge eines Streits wurde er von mehreren Angestellten gewaltsam festgehalten und erlitt dabei tödliche Verletzungen. Diese tragische Tat ereignete sich unter den Augen 15 bis 30 (!) Zeugen, die nicht eingriffen. Kiomars Javadi wurde er insgesamt 18 Minuten lang im Würgegriff gehalten. Nach seinem Tod wurde offenbar ein Alibi für die Täter konstruiert: Kiomars sei ein Ladendieb gewesen. Ein Einkaufswagen mit angeblich gestohlener Ware wurde präsentiert, doch seine Fingerabdrücke fanden sich darauf nicht. Dieser Vorfall ist ein erschütterndes Beispiel für rassistische Gewalt und mangelnde Zivilcourage in unserer Stadt.
Seit vier Jahren setzen sich verschiedene Akteur*innen der Erinnerungsarbeit in Tübingen dafür ein, die Radbrücke Mitte nach Kiomars Javadi zu benennen. Nach einem langen, intensiven Prozess kam die klare Entscheidung: Diese Brücke soll seinen Namen tragen. Doch ganz am Ende blockierte die Stadtverwaltung die Umsetzung – mit der Begründung, in Tübingen würden keine Brücken benannt. Ein Blick in den Stadtplan zeigt: das stimmt nicht! Dort stehen bereits der „Bankmannsteg“ und der
„Indianersteg“. Diese Argumentation war damals schon fragwürdig – und wird jetzt vollends hinfällig, da wir hier sitzen, um eine Brücke nach Ann Arbor zu benennen, mit ausdrücklicher Zustimmung derselben Stadtverwaltung.
Diese Diskrepanz wirft Fragen auf: Warum wird die Benennung einer Brücke nach einem Opfer rassistischer Gewalt blockiert, während andere Benennungen problemlos erfolgen? Die Frage ist also nicht mehr, ob wir Brücken benennen, sondern nach welchen Kriterien. Wenn manche Namenswünsche mit Regeln unterdrückt werden, die entweder gar nicht existieren oder nur für bestimmte politische Anliegen gelten, dann ist das willkürlich.
Die Notwendigkeit, ein Zeichen gegen Rassismus zu setzen, ist aktueller denn je. Im Jahr 2024 erreichte die Zahl rechtsextrem motivierter Straftaten in Deutschland mit 33.963 Fällen einen neuen Höchststand – ein Anstieg von mindestens 17,3 Prozent im Vergleich zu 2023. Diese Zahlen verdeutlichen die Dringlichkeit, aktiv gegen rassistische Gewalt vorzugehen und Opfer wie Kiomars Javadi angemessen zu würdigen. Kiomars Javadi wurde in unserer Stadt ermordet, weil er nicht ins rassistische Weltbild der Täter passte. Sie würde nicht nur an das Unrecht erinnern, das ihm widerfahren ist, sondern auch ein klares Bekenntnis unserer Stadt gegen Rassismus und für Zivilcourage darstellen. Ein öffentlicher Ort, der an ihn erinnert, wäre ein notwendiges Zeichen der Verantwortung.
Solange nicht geklärt ist, wie es mit der Benennung der Brücke nach Kiomars Javadi weitergeht, enthalten wir uns bei dieser Entscheidung. Entweder benennen wir Brücken – oder wir benennen keine. Was wir nicht hinnehmen, ist eine willkürliche, politische Blockade der Erinnerung an ein rassistisches Verbrechen.