Redebeitrag zum 9. November

Synagogenplatz, 9.11.2015, Redebeitrag von Gerlinde Strasdeit

Gerlinde Strasdeit

1933 brannten Bücher, 1938 brannten Synagogen,
dann folgte der Völkermord an den europäischen Juden.
Die Erinnerung an die Zerstörung des jüdischen Gotteshauses, an die Vor- und Nachgeschichte und das Gedenken an die Opfer dürfen nicht erlöschen.
Der Tübinger Gemeinderat sieht das als seine Aufgabe, zusammen mit dem Netzwerk gegen das Vergessen.
Unsere Aufgabe ist es auch, den kritischen Blick darauf zu richten, wie unsere Stadt nach 1945 umging mit der Heimatgeschichte im Nationalsozialismus.
Verdrängen, Vergessen und Verharmlosen war über Jahrzehnte das vorherrschende Verhalten in Tübingen wie überall in der Bundesrepublik.

1974 erschien das Buch von Lilli Zapf über die Geschichte der Tübinger Juden. Die Forschungsarbeit zu diesem Buch wurde damals von keiner offiziellen Stelle unterstützt. Erst im Jahr 1982, kurz vor ihrem Tod, erhielt sie dafür eine Bürgermedallie und seit dem Jahr 2002 stiftet die Stadt Tübingen jährlich den Lilli-Zapf-Jugendpreis.
Ich möchte den Blick auf das Jahr 2001 richten. Heute vor 14 Jahren wurde die zweite Gedenktafel errichtet.
Die erste Tafel erinnert an den Synagogenbrand und die Vorgeschichte.
Die zweite Tafel erinnert an die Ortsgeschichte des Platzes zwischen 1938 und dem Jahr 2000. Ich gehörte damals als Stadträtin dem zuständigen Gremium an. Es war hoch umstritten, diese zweite Tafel anzubringen, weil sie kritisch aufklärt, auch über den Umgang mit diesem Ort nach 1945.
Dem inzwischen verstorbenen Kulturwissenschaftler Utz Jeggle und dem damaligen CDU Fraktionsvorsitzenden Dieter Pantel war es zu verdanken, dass der Gemeinderat diesem Text zugestimmt hat.
Utz Jeggle erinnerte heute vor 14 jahren bei der damaligen Einweihung daran, dass der Text, der hier am Synagogenplatz zu lesen ist – weder elegant und wohlklingend gedacht gewesen – und deshalb auch nicht so ausgefallen sei.
Die Brüche aber, die ihm anzumerken sind, können als Spuren oder Schrammen der Zeit sowie der Auseinandersetzung um den Text selbst gelesen werden.
Und er sagte: „dass jene Vergangenheit, die sich ins Gegenwärtige mischt, – sich also nicht isolieren und abhaken lässt – , am schmerzhaftesten ist – und deshalb so heftig abgewehrt wird.“ Da hatte er recht.
Noch bis heute wirken in der Stadt die Verflechtungen bekannter Persönlichkeiten mit dem nationalsozialistischen Herrschaftssystem nach.
Noch immer gíbt es Hemmungen und Blockaden, alles auf den Tisch zu packen und Konsequenzen zu ziehen.
Klar ist, auch dieses Denkmal ist kein Schlusspunkt.
70 Jahre nach dem Ende der faschistischen Herrschaft muss es möglich sein, offen über die Liste der Tübinger Ehrenbürger zu reden. Der Gemeinderat beschloss vor zwei Jahren, Adolf Scheef und Theodor Haering die Ehrenbürgerschaft abzuerkennen. Der ehemalige Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger und der ehemalige Tübinger Oberbürgermeister Hans Gmelin dagegen gelten weiter als Ehrenbürger unserer Stadt.
Beide waren vor 1945 in führenden Schlüsselfunktionen des nationalsozialistischen Herrschaftsapparates tätig. Über Hans Gmelin erwartet der Gemeinderat demnächst ein wissenschaftliches Forschungsergebnis zu seiner Tätigkeit in der Slowakei.
Ebenso wichtig ist die Erinnerung und Erforschung des Widerstandes – es gab ihn, auch in unserer Stadt. Bürgerinnen und Bürger, die aktiv Widerstand leisteten oder zumindest standhaft blieben und nicht mitmachten.
Morgen wird im neu renovierten Rathaus eine Gedenktafel enthüllt für die Stadträte, die 1933 von den Nazis aus dem Gemeinderat entfernt wurden.

Der breite demokratische Konsens, den es in unserer Gesellschaft heute gibt gegen Antisemitismus, gegen Rassismus und Nationalismus ist ein hart erkämpftes Gut. Ich sehe diesen Konsens in Gefahr, angesichts einer hetzerisch und fremdenfeindlich auftretenden Pegida-Bewegung und angesichts von brennenden Flüchtlingsunterkünften.
Die Eskalation dieser Gewalt hat in den letzten Wochen eine neue Dimension erreicht.
Diese Art antidemokratischer Verrohung hat in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts den Nazis den Boden geebnet. Um ihre Hetze gegen Flüchtlinge zu schüren, berufen sich die Pegida-Redner auf die angeblichen Werte der deutschen Kulturnation.
Deshalb ende ich mit einem Zitat des großen deutschen Dichters Heinrich Heine aus seinem Wintermärchen:

„Fatal ist mir um das Lumpenpack, das – um Herzen zu rühren – den Patriotismus trägt zur Schau, – mit all seinen Geschwüren.“

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