Vorlage 527/2023 (PDF)

19.06.2023

Der Gemeinderat Tübingen beschließt folgende Resolution:
Im vergangen Jahr jährte sich zum 50. Mal der sogenannte „Radikalenerlass“. Er wurde 1972 von der Ministerpräsidentenkonferenz unter dem Titel „Grundsätze zur Frage verfassungsfeindlicher Kräfte im Öffentlichen Dienst“ beschlossen. In der Folgezeit wurden etwa 11.000 Berufsverbots- und 2.200 Disziplinarverfahren eingeleitet und offiziell 1.256 Bewerberinnen und Bewerber nicht eingestellt sowie 265 Beamte entlassen. Auch für mehr als 30 Betroffene, die in Tübingen studiert, gelebt und gearbeitet haben, hatte der Erlass schwerwiegende Folgen.

Einige der Tübinger Betroffenen haben bis heute aktiv an der Gestaltung der kommunalen Demokratie mitgewirkt und jahrelang in Ortsbeiräten, im Tübinger Gemeinderat und Kreistag mitgearbeitet.

In Baden-Württemberg wurde der Beschluss „mit besonderer Härte“ (Ministerpräsident Kretschmann), mittels des sogenannten „Schiess-Erlasses“ vom 2.Oktober 1973 praktiziert. Der nach dem damaligen Innenminister Karl Schiess benannte Erlass jährt sich in diesem Jahr zum 50.Mal.

Schon 2021 hat eine Vielzahl von Persönlichkeiten aus Politik, Gewerkschaften, Wissenschaft und Kultur gemeinsam einen Aufruf unterzeichnet: den Radikalenerlass generell offiziell aufzuheben, alle Betroffenen vollumfänglich zu rehabilitieren und zu entschädigen und die Folgen der Berufsverbote und ihre Auswirkungen auf die demokratische Kultur wissenschaftlich aufzuarbeiten.

Der Gemeinderat der Stadt Tübingen schließt sich dem ausdrücklich an und fordert die baden-württembergische Landesregierung und den Landtag auf, den Forderungen der Betroffenen nach Rehabilitierung und Entschädigung sowie Aufarbeitung und Entschuldigung nachzukommen.

Begründung:
Der sogenannte „Radikalenerlass“ hat der Demokratie und dem gesellschaftlichen Klima in der Bundesrepublik schweren Schaden zugefügt. Einige Menschen wurden in ihrer Existenz bedroht. Eine offene, tolerante, demokratische Gesellschaft braucht den uneingeschränkten Erhalt der Grundrechte. Nach nunmehr 50 Jahren ist es an der Zeit, das Kapitel Berufsverbote endgültig abzuschließen. Die Praxis der Berufsverbote wurde 1987 von der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO bzw. ILO) und 1995 vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) als Unrecht verurteilt. Von 2012 bis 2021 haben die Landesparlamente von Bremen, Nie- dersachsen, Hamburg und Berlin Beschlüsse zur Aufarbeitung gefasst, gegenüber den Betroffenen kollektiv Entschuldigungen ausgesprochen bzw. Rehabilitierung zugesagt und zum Teil auch Entschädigungen angekündigt.

Ministerpräsident Winfried Kretschmann (in einer ARD-Dokumentation im Januar 2022) und Innenminister Thomas Strobl (in einem Antwortschreiben im Februar 2022 auf eine SPD-Landtagsanfrage) hatten erklärt, den Abschluss eines an der Universität Heidelberg laufenden Forschungsprojekts zum „Radikalen- und Schiess-Erlass“ abwarten zu wollen.
Die Ergebnisse dieser von 2018 bis 2021 mit finanzieller Unterstützung des Wissenschaftsministeriums durchgeführten Studie liegen seit Mai letzten Jahres in Buchform vor. Sie bestätigen: damals wurde politisch „mit Kanonen auf Spatzen geschossen“ (S. 193). In rechtlicher Hinsicht ist die Praxis „als Einschränkung der Grundrechte (…) zu verurteilen (S. 475). Sie war von Anfang an als rechtswidrig einzustufen“, insbesondere weil sie „mit der ILO-Konvention Nr. 111 nicht übereinstimmt“ (S. 289).

Viele der damals Betroffenen spüren die Auswirkungen der Berufsverbote durch Kürzungen bei ihren Ruhegehältern oder sogar Altersarmut bis heute. Ihre materiellen Nachteile müssen ausgeglichen werden.
In Baden-Württemberg werden die berechtigten Forderungen der Betroffenen bedauerlicherweise seit Jahren abgelehnt. Ministerpräsident Kretschmann hat laut Medienberichten zuletzt bei einem Gespräch mit Betroffenen am 8.Februar im Staatsministerium erneut an dieser Ablehnung festgehalten.

Die Historikerin Mirijam Schnorr kommt in der Heidelberger Studie zu dem Schluss: „Die Frage (…), ob die Betroffenen ihre Forderungen in naher Zukunft eingelöst wissen können, das zu entscheiden, ist freilich nicht die Aufgabe der Wissenschaft, sondern vor allem die des politischen Wollens“ (S.193).

Für die SPD Dr. Martin Sökler
Für die Linke Gerlinde Strasdeit
Für die FRAKTION David Hildner